Verwendete Pflanzenteile:die komplette Pflanze mit Beeren und Senker
Inhaltsstoffe: Viscotoxine, Lektine, Flavonoide, biogene Amine, Schleimstoffe
Herkunft: Portugal bis Iran, Skandinavien bis Sizilien.
Verwendete Pflanzenteile:die komplette Pflanze mit Beeren und Senker
Inhaltsstoffe: Viscotoxine, Lektine, Flavonoide, biogene Amine, Schleimstoffe
Herkunft: Portugal bis Iran, Skandinavien bis Sizilien.
Misteln sind Halbschmarotzer, die vorwiegend auf Bäumen und Sträuchern, seltener auf Nadelbäumen wachsen. Ihr Aussehen hat etwas von einem buschigen Keimling. Das liegt an den immergrünen, dicklichen Laubblättern, deren lanzettliche Form wenig ausdifferenziert wirkt. Die paarweise gegenüberstehenden, ledrigen Blätter ohne deutliche Aderung haben eine geradezu kindliche Anmutung. Johann Wolfgang von Goethe nannte die Mistel denn auch das Kind unter den Pflanzen. Die Sprossachsen verzweigen sich im Wachstum gabelig. Die Anzahl der Verzweigungen verrät das Alter der Mistel: Jede Abzweigung steht für ein Jahr Wachstum. Ältere Misteln können so Durchmesser bis zu einem Meter erreichen. Sie verkahlen dabei im Inneren, weil die Laubblätter, die an den Sprossspitzen wachsen, maximal zwei Jahre alt werden.
Es gibt weibliche und männliche Misteln. An beiden entwickeln sich von Mitte Januar bis Anfang April die unscheinbaren gelben Blüten mit etwa zwei Millimeter langen Tragblättern. Der Pollen ist klebrig und wird deshalb nicht vom Wind verbreitet, sondern von Fliegen, die der fruchtige Blütenduft anzieht. Die milchig weißen Beeren reifen nach etwa neun Monaten. Vögel lieben die Beeren als Winterfutter.
Misteln sind Halbschmarotzer, brauchen also eine Wirt, der sie mit Wasser und Nährstoffen versorgt. Keimt ein auf einem Baum gelandeter Same, bildet sich zuerst eine Haftscheibe (Haustorium). Nach mehreren Monaten wachsen die so genannten Senker in den Baum hinein, stimmen im Inneren des Stamms die Baumzellen um, die den Senker fortsetzen und eine Verbindung der Mistel zum Leitsystem (quasi dem Ernährungssystem des Baums) zulassen. Die so fest verankerte Mistel kann sich vom Baum ernähren und zu einem Busch wachsen.
Ein Vogel fliegt über den Baum und lässt mit seiner Ausscheidung eine Mistelbeere fallen. Warum bleibt diese Mistelbeere am Baum kleben? Die Antwort findet sich in dem weißen Fruchtfleisch, das den Mistelsamen umgibt. Es enthält einen Zelluloseklebstoff namens Viscin, der bis zu zwei Meter lange klebrige Fasern bildet.
Eine Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam zusammen mit Kollegen der McGill Universität in Kanada untersuchten die Eigenschaften des Viscins (Horbelt et al. 2022). In trockenem Zustand haben die Viscinfasern eine erstaunliche Klebekraft. Angefeuchtet lässt sich das Viscin wieder einfach lösen. Die quellfähigen Fasern lassen sich im feuchten Zustand zudem zu dünnen Filmen dehnen oder in 3D-Strukturen verarbeiten.
Viscin haftet nicht nur an organischen Materialien, sondern auch an Glas, Kunststoffen und Metall. Möglicherweise lässt sich ein Film aus diesem biologischen Klebstoff als leicht wieder entfernbarer Wundverschluss einsetzen.
Pflanzen entwickeln sich in Polaritäten wie Licht und Dunkel, Leichte und Schwere, Bewegung und Ruhe. Der grüne, nach oben strebende Spross zeigt seine Beziehung zu Licht, Leichte und Bewegung. Die Wurzel dagegen wendet sich dem Dunklen, Schweren, der Ruhe zu. Der Mistel scheinen diese Polaritäten zu fehlen, da sie weder einen nach oben strebenden Spross noch eine ins Erdreich wachsende Wurzel besitzt. Kugelig, in Blatt und Krone wenig differenziert, ständig grün und wenig verholzt, geradezu embryonal scheint ihr Wachstum gehemmt, in sich zu verharren. Vielleicht deshalb nannte Goethe die Mistel das Kind unter den Pflanzen. Doch auch die Mistel lebt in Polaritäten, die bei ihr im Innern wirken in Form ihrer Inhaltsstoffe Viscotoxin und Mistellektin:
Auch in den Pflanzenteilen spiegeln sich diese Polaritäten wider. Das lichte Viscotoxin ist vermehrt in Blatt und Stängel, das dunkle Mistellektin vermehrt in den Beeren zu finden, die sich nur im Winter ausbilden. Die Mistel wird für Präparate zur Krebstherapie deshalb zweimal im Jahr geerntet: einmal im Juni und einmal im Dezember. Die aus den beiden Mistelernten gewonnenen Säfte haben unterschiedliche Viscotoxin- und Mistellektinanteile und werden unterschiedlich weiterverarbeitet, wobei jeweils die gegenteilige Polarität verstärkt wird: Der Wintersaft wird aus dem Zentrum in die Leichte geschleudert, den Sommersaft lässt man tropfenweise in die Schwere, in das Zentrum des Wintersaftwirbels fallen. Beide Säfte gemischt ergeben ein Arzneimittel, das dem Patienten hilft, innere Ungleichgewichte wieder zu ordnen und so wieder eine Kraft aus der eigenen Mitte heraus zu gewinnen.
Die Mistel unterstützt eine Therapie gegen Bluthochdruck und Arthrosen. Zusammen mit Weißdorn stärkt sie ein müdes, geschwächtes Herz. Auch bei Schwindelanfällen, epileptischen Zuständen und in der Krebstherapie ist sie eine wichtige Heilpflanze.
Erste Studien weisen Erfolge in der Behandlung von Tieren mit Equinen Sarkoiden (Hautkrankheit bei unter anderem Pferden und Eseln) nach (Felenda, Stintzing 2018), Fibrosarkomen oder Brustkrebs mit Mistel nach. Vor allem die Lebensqualität der Tiere wurde deutlich verbessert, das Tumorwachstum verlangsamt, Rezidivbildungen vermindert und in einigen Fällen, je nach Tumorart, auch eine vollständige Regression (Rückentwicklung) erzielt.
Mistelzubereitungen helfen bei Niereninsuffizienz, wie sie häufig bei älteren Katzen vorkommt. Bei der Erkrankung degenerieren die Nieren. Diesen Vorgang kann die Mistel aufhalten. Außerdem aktiviert die vitalisierende Mistel Nierenstoffwechselvorgänge und regt die Harnbildung an.
Erst im Jahr 2021 gelang es Wissenschaftlern, die Erbinformation der Mistel zu dechiffrieren (Schröder et al. 2022). Das Erstaunliche: Das Genom ist 30-mal größer als das des Menschen. Zudem fanden die Wissenschaftler heraus, dass die Mistel-DNA im Vergleich zu anderen Pflanzen besonders stabil ist. Möglicherweise liegt in dieser Stabilisierung des Genoms eines der Geheimnisse der Mistel.
Wer Einblicke in das Mistel-Genom haben möchte, bekommt diese über die Viscum album Gene Space Database. Mit mehr als 90.000 Sequenzen hat das Team des Instituts für Pflanzengenetik an der Leibniz Universität Hannover das Mistelgenom in dieser Datenbank veröffentlicht (Schröder et al. 2023).
Die Mistel ist in vielen Dingen anders als andere Pflanzen. So zum Beispiel auch bei ihrer Energiegewinnung. In der Natur ist die quasi Energiewährung das Adenosintriphosphat, abgekürzt ATP. Dieses Molekül mit einer energiereichen Phosphatbindung kommt dann zum Einsatz, wenn die Zelle Energie für Synthesen braucht oder für die Funktion einer Muskelzelle. ATP wir dabei zu ADP, Adenosindiphosphat abgebaut. Durch die Abtrennung eines Phosphat-Moleküls wird Energie freigesetzt. Die quasi verbrauchten ADP-Moleküle werden wieder zu ATP aufgebaut. Dem ADP wird also wieder ein Phosphat angehängt. In der Phosphatbindung ist wieder Energie für den nächsten Zellprozess gespeichert.
Die Energie für die Produktion von ATP stammt aus der Zellatmung. Sie findet in den so genannten Mitochondrien statt, komplexe Strukturen mit zwei Membranen und eigener Erbsubstanz, die in allen Zellen höherer Lebewesen wie Pilzen, Pflanzen und Tieren vorkommen. Während dieser Zellatmung baut das Mitochondrium zum Beispiel Fettsäuren ab und nutzt die daraus gewonnen Energie, um Wasserstoffionen (Protonen) zwischen seinen Membranen anzureichern. Diesen energiereiche Protonengradient nutzt das Mitochondrium wiederum, um ADP-Moleküle wieder zu ATP umzuwandeln, zu phosphorylieren, wie es chemisch heißt.
An dieser Atmungskette beteiligt sind vier äußerst große Proteinstrukturen, die in die Mitochondrienmembranen eingelagert sind. Sie werden als Komplex I bis IV bezeichnet. Das Enzym, das ADP in den Mitochondrien zu ATP umwandelt, ist als Komplex V bekannt.
So ist die normale Atmungskette aufgebaut. Nicht aber bei der Mistel, wie eine Forschungsgruppe an der Universität Hannover herausfand (Senkler et al. 2018). In den Mitochondrien der Mistel fehlt der Komplex I, während die Mengen an Komplex II und V stark reduziert sind. Dennoch schaffen es die Mitochondrien der Mistel, energiereiche ATP-Moleküle zu synthetisieren. Die verbleibenden komplexen Proteine der Atmungskette kompensieren das fehlende Protein. Letztendlich produziert die Mistel dennoch weniger ATP als eine Pflanze mit normal aufgebauter Atmungskette (Maclean et al. 2018). Als Halbschmarotzer kann sie sich allerdings diese weniger effektive Zellatmung leisten.
Bis in das fünfte vorchristliche Jahrhundert lässt sich die medizinische Verwendung der Mistel als Heilpflanze zurückverfolgen. Plinius der Ältere (23-79) berichtete im ersten Jahrhundert nach Christus vom Einsatz der Mistel gegen Fallsucht und Schwindelanfälle. Dieses Wissen wurde vom deutschen Botaniker Hieronymus Bock (1498-1554) sowie dem italienischen Arzt Pietro Andrea Gregorio Matthiolus (1501-1577) weitertradiert und ergänzt durch die Anwendung von Mistelsalbe bei Geschwüren und eitrigen Wunden. Pfarrer Sebastian Kneipp (1821-1897) stillte mit der Mistel Blutflüsse und behandelte Störungen im Blutumlauf. Die Wirksamkeit der Misteltherapie in der Krebstherapie erkannte Dr. Rudolf Steiner (1861-1925) Anfang des 20. Jahrhunderts.
Die Mistel galt in vielen Kulturen als heilig. So hoch im Baum wachsende Pflanzen mussten von den Göttern gesät sein. Sie zu besitzen, verlieh die Kraft, Schmerzen zu lindern, Kranke zu heilen und Schätze aufzuspüren. Die Mistel erfüllte alle Wünsche. In alten Darstellungen sind Mistelzweige in der Hand von Göttern, Medizinmännern, Priestern, Feldherren und Königen zu finden. Druiden schnitten sie mit goldenen Sicheln. Die geschnittene Mistel durfte nicht den Boden berühren.
Felenda J, Stintzing F. Mistletoe Preparations as an Option for Treatment of Equine Sarcoids – Results of an In vitro Investigation on Cell Proliferation in 2D And 3D Design. Journal of Veterinary Medicine and Research 2018; 5(11):1169.
Horbelt N, Fratzl P, Harrington MJ. Mistletoe viscin: a hygro- and mechano-responsive cellulose-based adhesive for diverse material applications. PNAS Nexus 2022; 1: 1-11.
Maclean AE, et al. Absence of Complex I Is Associated with Diminished Respiratory Chain Function in European Mistletoe. Current Biology 2018; 28: 1614-1619.
Schröder L, et al. The gene space of European mistletoe (Viscum album). The Plant Journal 2022; 109(1): 278-294.
Schröder L, et al. The Viscum album Gene Space database. Frontiers in Plant Science 2023; 14.
Senkler J, et al. Absence of Complex I Implicates Rearrangement of the Respiratory Chain in European Mistletoe. Current Biology 2018; 28: 1606-1613.
Szurpnicka A, Kowalczuk A, Szterk A. Biological activity of mistletoe: in vitro and in vivo studies and mechanisms of action. Archives of Pharmacal Research 2020; 43: 593-629.
Johannes Wilkens, Gert Böhm
Misteln - Kraftvolle Krebsheiler aus der Natur
Vorbeugen, lindern, heilen
Aarau: AT Verlag; 2. Auflage 2022
240 Seiten, gebunden
28,00 €
ISBN: 978-3-03800-891-0
Die Publikation wurde von der Stiftung für Integrative Medizin & Pharmazie unterstützt.