Viel in einem - Pflanzliche Arzneimittel

Eibe (Taxus spp.), ein für die Krebstherapie wichtiges Pflanzengemisch
Das in der Krebstherapie eingesetzte Paclitaxel (Taxol®) stammt aus der Eibe (Taxus spp.).

Was sind Vielstoffgemische?

Konventionelle Arzneimittel enthalten in der Regel eine begrenzte Anzahl genau definierter Wirkstoffe. Ist nur ein Wirkstoff enthalten, spricht man von einem Monopräparat. In Phytopharmaka hingegen, die aus ganzen Pflanzenteilen gewonnen werden, finden sich eine Vielzahl von Inhaltsstoffen, eben das gesamte Spektrum der verarbeiteten Arzneipflanze. Sie werden deshalb in der Pharmazie als Vielstoffgemische bezeichnet.

Pflanzliche Arzneimittel leisten einen wichtigen Beitrag in der Medizin

Vielen ist heute nicht mehr bewusst, dass wichtige Wirkstoffe der Schulmedizin ursprünglich aus altbekannten Arzneipflanzen stammen. Herzwirksame Digitalis-Präparate aus dem Fingerhut (Digitalis spp.), das durchblutungsfördernde Methylsalicylat aus Mädesüßkraut (Filipendula ulmaria) oder das in der Krebstherapie eingesetzte Paclitaxel (Taxol®) aus der Eibe (Taxus spp.) sind Beispiele. Die aktiven sekundären Pflanzenstoffe aus den seit Jahrtausenden bekannten Heilpflanzen zu isolieren, modulieren und künstlich in großen Mengen herzustellen, hat ganze Industriezweige groß werden lassen.

Denn in der konventionellen Medizin besteht die Auffassung, dass Arzneimittel klar definierte Zusammensetzungen mit eindeutig beschreibbaren Einzelbestandteilen besitzen sollten. Im einfachsten Fall sollten sie aus einem chemisch definierten Wirkstoff und einem oder mehreren Hilfsstoffen bestehen. Eine genau definierte Rezeptur macht die Kontrolle und Bewertung des Arzneimittels leichter (Abel & Roether, 2016).

Es gibt aber auch einen anderen Weg. Man kann die aktiven Substanzen eingebettet in das Pflanzengemisch, aus dem sie stammen, einsetzen, also komplette Pflanzenauszüge verwenden. Diese natürlichen Wirkstoffmischungen können eine verstärkende, ergänzende oder abschwächende Wirkung zeigen und sind eine sinnvolle Ergänzung zur Therapie mit Monopräparaten. Auch deshalb, weil die Zahl der Nebenwirkungen durch die Kombinationstherapie geringer ist.

Dieser Weg hat eine lange Tradition. Die Geschichte der pflanzlichen Medikamente auf Basis von Vielstoffgemischen ist zugleich Ausgangspunkt für die Entstehung der heutigen Medizin, mit ihren Wurzeln in der Phytotherapie.

Komplexe Gemische aus Pflanzenteilen: mehr als die Summe ihrer Einzelkomponenten

Im Stoffgemisch der Pflanze lassen sich erstaunliche Effekte feststellen. Inhaltsstoffe, die in extrahierter Form keine biologische Wirkung zeigen, sind im Verbund des Pflanzengemisches auf einmal giftig. Wie kann das sein?

Ein Beispiel ist die Kornrade (Agrostemma githago). Insbesondere die Samen sind giftig. Zwei ihrer Inhaltsstoffe, die seifenartigen Saponine und die zu den komplexen Proteinen gehörenden Lektine, sind in Zellkulturen einzeln getestet nur gering beziehungsweise nicht giftig. Kombiniert man die Saponine mit den Lektinen, erhält man ein stark toxisches Gemisch. Die Lösung für dieses Rätsel liegt im Zusammenspiel der beiden Einzelsubstanzen. Saponine verstärken die Aufnahme von Lektinen in Zellen. In der Zelle angekommen können Lektine die Proteinsynthese hemmen. Sie haben damit eine Wirkung wie Zytostatika. Doch erst durch den Zellöffner Saponin gelangen sie dorthin, wo sie ihre Wirkung entfalten können.

Vielstoffgemische für eine Medizin der Zukunft

Die Erforschung von komplexen Gemischen von Pflanzenteilen öffnet neue Wege für die Entwicklung von pflanzlichen Arzneimitteln. Ein Beispiel: Die Kombination von Lektinen mit Saponinen erzeugt stark zytotoxisch wirksame Mittel, die antitumoral wirken, wenn die Lektine zur Erkennung der Tumorzellen mit monoklonalen Antikörpern gekoppelt werden. Saponine können zudem die Wirkung anderer Substanzen verstärken. Dazu gehören auch Antibiotika, gegen die Bakterien resistent geworden sind. Durch die Kombination von Saponinen aus der Süßholzwurzel (Glycyrrhiza glabra) mit dem Antibiotikum Gentamicin wurden Gentamicin-resistente Wundinfektionskeime wieder empfindlich gegen Antibiotika.

Die Kunst liegt nun darin, weitere Stoffkombinationen zu finden, die besonders wirksam sind. Dafür bedarf es guter Forschung, die unter anderem untersuchen, was eine Pflanze zu einem natürlichen Antibiotikum macht. Viele Forscher sind allerdings der Meinung, dass die Untersuchung der Wirkung von Monosubstanzen bereits komplex genug ist.

Arzneimittel auf Basis natürlicher Vielstoffgemische können zudem einen Beitrag zu einer individualisierten, auf den Menschen zugeschnittenen Medizin leisten. Ganz im Sinne der Integrativen Medizin. Sie können die Gesundheit stärken und den erkrankten Menschen bei der Gesundung unterstützen. Im Fokus steht eine Therapie, deren Erfolg sich an einer gestärkten Gesundheit misst und nicht allein an der Behebung oder Linderung von Krankheit.

Die Stiftung Integrative Medizin & Pharmazie fördert die Erforschung von Vielstoffgemischen

In Deutschland wird seit Jahren die Grundlagenforschung an pflanzlichen Arzneimitteln nicht mehr gefördert. An den Universitäten nehmen die Professuren ab, die sich mit solchen Fragestellungen befassen. Damit wird das bestehende Wissen nicht mehr gepflegt und weiterentwickelt und auch nicht mehr weitergegeben. Die Grundlage für weitere Forschungsideen geht dadurch nach und nach verloren. Öffentliche Gelder für die Forschung an pflanzlichen Vielstoffgemischen oder natürlichen Antibiotika sind seit Jahren stark zurückgegangen. Damit fehlt der Forschung zur Integrativen Medizin eine wesentliche Grundlage. Deshalb springt hier die Stiftung Integrative Medizin & Pharmazie ein und fördert seit 2022 die Erforschung von Vielstoffgemischen. Im Fokus der Förderprogramme stehen:

Diese Aufgaben sind höchst anspruchsvoll, lohnen sich aber. Denn das daraus gewonnene Wissen kommt den Patient:innen für die Gesundheitsstärkung, die Gesundung und die Gesunderhaltung zugute.

Wie geht das: ein pflanzliches Arzneimittel entwickeln?

Wer ein Arzneimittel auf Basis eines Gemisches von Pflanzenteilen entwickeln will, steht vor einigen Herausforderungen. Denn die Pflanzenauszüge mit den sekundären Pflanzenstoffen, die im Arzneimittel enthalten sein sollen, qualitativ und quantitativ zu beschreiben, ist allein schon hoch anspruchsvoll. Ihr Inhaltsstoffspektrum ist von mehreren Faktoren abhängig:

  • Es beginnt damit, dass die Ausgangspflanze, die ja selber bereits ein Vielstoffgemisch ist, je nach Standort und Erntezeit unterschiedliche Inhaltsstoffe enthalten kann. Das ist wie mit Trauben einer Sorte, die jedes Jahr oder abhängig vom Anbaugebiet anders schmecken. Oder unreif geerntete Erdbeeren: Sie haben noch nicht das volle Aroma ausgebildet.
  • Zudem bildet die Heilpflanze in ihren verschiedenen Teilen wie Blatt, Blüte, Frucht oder Wurzel sehr unterschiedliche Inhaltsstoffe aus. Kürbisfleisch schmeckt sehr anders als Kürbiskerne.
  • Letzendlich bestimmt die Aufbereitungsmethode, welche Inhaltsstoffe aus der Pflanze extrahiert werden. Es macht zum Beispiel einen großen Unterschied, ob die Pflanze getrocknet und mit Öl extrahiert wird oder eine frische Pflanze mit Wasser. Getrocknete Tomaten haben einen anderen Geschmack als Tomatensuppe.

Zu Beginn der Arzneimittelentwicklung ist es deshalb grundlegend wichtig, exakt festzulegen, welcher Pflanzenteil verarbeitet und mit welchem standardisierten pharmazeutischen Prozess er aufbereitet wird. Für die richtige Entscheidung ist wichtig zu wissen, für welchen therapeutischen Einsatz das Arzneimittel entwickelt wird. Denn der pharmazeutische Prozess bestimmt, welches Spektrum der Pflanzeninhaltsstoffe extrahiert wird.

Wie können wir die Wirksamkeit von Vielstoffgemischen prüfen?

Ein Monopräparat soll in der Regel auf ein bestimmtes Organ im Menschen wirken. Man spricht von der One-substance-One-target-Perspektive. Nach dieser Sichtweise lässt sich das Monopräparat während der Entwicklung gut in in-vitro-Systemen testen. In der Phase der klinischen Prüfungen geht man von stark vereinfachten Annahmen aus. Insbesondere wenn die verwendeten Wirkstoffe und Hilfsstoffe synthetisiert oder hochaufgereinigte Einzelverbindungen sind und die Patienten, die an der klinischen Studie teilnehmen, nach ähnlichen Kriterien ausgewählt wurden, also zum Beispiel alle männlich und um die 50 Jahre alt sind (Blonde et al., 2018; Stevely et al., 2015; Wise, 2016). Dennoch: Ein Monopräparat ist einfach zu definieren, der Mensch aber nicht. Deshalb reagieren Patienten auf ein konventionelles Medikament trotzdem nicht immer gleich.

Wie lässt sich nun die Wirksamkeit eines pflanzlichen Medikaments auf Basis eines Vielstoffgemisches auf den Menschen beschreiben? Ein vereinfachtes Modell wie bei den Monopräparaten ist hier fehl am Platz. Ein schlüssiges Konzept für eine komplexe Wirkanalyse fehlt bislang. Deshalb finden Phytopharmaka in der modernen Schulmedizin immer weniger Beachtung (Stange, 2014; Vaidya, 2014). Und dennoch wird die Wirksamkeit von Vielstoffgemischen aus traditionell medizinischem Erfahrungswissen nicht mehr gänzlich in Frage gestellt (Stange, 2018). Um dieses Wissen für die Gesundheitsstärkung, Gesundung und Gesunderhaltung von Menschen zu untermauern, sind im präklinischen Bereich Testsysteme erforderlich, die toxikologische und pharmakologische Fragestellungen aufgreifen. Solche in-vitro-Systeme, die unter anderem analytische Verfahren mit Bioassays koppeln, sind in den letzten Jahren konsequent weiterentwickelt und bezüglich der Aussagefähigkeit verbessert worden (Morlock & Schwack, 2010; Morlock, 2021).

Was als weiterer Schritt folgt, sind klinische Wirksamkeitsprüfungen der Arzneimittel, um deren therapeutischen Nutzen zu untersuchen. Ein Beispiel sind die klinischen Fallstudien zur Krebstherapie, die die Stiftung Integrative Medizin & Pharmazie unterstützt hat.

Literatur zu Vielstoffgemischen

Abel G, Roether B. Pflanzliche und chemische Arzneimittel – der Unterschied. Pharmakon 2016; 4:310-319.

Blonde L, Khunti K, Harris SB, Meizinger C, Skolnik NS. Interpretation and impact of real-world clinical data for the practicing clinician.  Advances in Therapy 2018; 35:1763-1774.

Morlock G. High-performance thin-layer chromatography combined with effect-directed assays and high-resolution mass spectrometry as an emerging hyphenated technology: A tutorial review. Analytica Chimica Acta 2021; 1180:338644.

Morlock G, Schwack W. Hyphenation in planar chromatography. Journal of Chromatography A 2010; 1217:6600-6609.

Stange R. Gender, Naturheilverfahren und Komplementärmedizin – wie man hineinfragt …?  Zeitschrift für Komplementärmedizin 2014; 3:51-55.

Stange R. Phytotherapie im Spannungsfeld von Tradition, modernsten Analysetechniken und klinischer Erprobung. Zeitschrift für Komplementärmedizin 2018; 6:56-59.

Stevely A, Dimairo M, Todd S, Julious SA, Nicholl J, Hind D, et al. An investigation of the shortcomings of the CONSORT 2010 statement for the reporting of group sequential randomised controlled trials: a methodological systematic review. PLoS One 2015; 10:e0141104.

Vaidya ADB.  Reverse pharmacology - a paradigm shift for drug discovery and development.  Current Research in Drug Discovery 2014; 1:39-44.

Wink M. Wie funktionieren Phytopharmaka? Zeitschrift für Phytotherapie 2005; 26:262-270.

Wink M. Von Pfeilgift bis zum Rauschmittel: Sekundärstoffe - die Geheimwaffen der Pflanzen. Biologie in unserer Zeit 2015; 45:225-235.

Wise PH. Cancer drugs, survival, and ethics. BMJ 2016; 355:i5792.